Infokriegernews.de :
Herr Professor Dr. Schachtschneider, am 10.Februar schrieben Sie in einem
Gastbeitrag für Hintergrund.de., die EU leide "an einem unheilbaren
Demokratiedefizit".


Heute schrieb das Bundesverfassungsgericht in seiner P
ressemitteilung, die EU leide
an einem "strukturellen, im Staatenverbund nicht auflösbaren Demokratiedefizit".
(http://www.bundesverfassungsgericht.de/pressemitteilungen/bvg09-072.html)
Ist das nicht ein inhaltlicher Sieg für Ihr demokratisches Engagement?


Professor Dr. iur. Karl Albrecht Schachtschneider:


Durchaus, in der Frage hat sich meine Auffassung durchgesetzt. Aber das Gericht
läßt die Legitimation der Europapolitik durch den nationalen Gesetzgeber (noch)
genügen, weil die Europäische Union nur begrenzt und bestimmt ermächtigt sei, so
daß Ihre Maßnahmen voraussehbar und durch die Abgeordneten des Bundestages
sowie die Mitglieder des Bundesrates verantwortbar sei. Das ist die
demokratiedogmatische Lebenslüge der Integration. Die Abgeordneten und
Bundesratsmitglieder wissen so gut wie nichts von den Richtlinien und Verordnungen
der Union und pflegen sich um diese auch nicht zu kümmern.


Infokriegernews.de
Das Bundesverfassungsgericht schrieb heute in seinem Urteilsspruch, es sei "allein die verfassungsgebende Gewalt, die berechtigt ist, den durch das Grundgesetz
verfassten Staat aufzugeben, nicht aber die verfasste Gewalt." Ebenso sei "keinem
Verfassungsorgan die Kompetenz eingeräumt, die nach Art. 79 Abs. 3 GG
grundlegenden Verfassungsprinzipien zu verändern". Und weiter: "Darüber wacht das
Bundesverfassungsgericht."
(http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/es20090630_2bve000208.
html
)
Damit ist doch eine EU-Verfassung ohne Volksabstimmung endgültig vom Tisch, oder?


Professor Dr. Schachtschneider:
Richtig, wenn man darunter die Verfassung eines Staates im existentiellen Sinne
versteht, wie das Gericht, eine Verfassung, welche die Unionsbürger zu einem Staat
zusammenfaßt, in dem die jetzigen Mitgliedstaaten ihre völkerrechtliche und
existentielle Staatseigenschaft verlieren. Das ist eine mehr als fragwürdige Dogmatik.
Richtigerweise ist die Union ein Staat, hat aber keine Staatseigenschaft im
existentiellen Sinne, schon nicht, weil kein Unionsvolk verfaßt ist. Dem Gericht dient
seine Dogmatik dazu, die demokratischen Anforderungen an die Rechtsetzung der
Union zu minimieren. Diese sollte aber nicht von der Staatseigenschaft abhängig
gemacht werden, sondern schlicht davon, daß die Union verbindlich das Recht setzt.


Rechtsetzung muß wirksam demokratisch von einem Parlament legitimiert werden,
das freiheitlich und gleichheitlich gewählt ist, soweit nicht das Volk die Gesetz
unmittelbar beschließt.


Infokriegernews.de :
Das Bundesverfassungsgericht benannte bindende Aus-Linien für Exekutive und
Legislative auf dem Spielfeld des Grundgesetzes, indem es Artikel 79 Absatz 3 als
"absolute Grenze" der Anpassung des Grundgesetzes an die EU setzte, dessen
"geschützter Mindeststandard" nicht unterschritten werden darf. Das bedeutet u.a.,
Zitat aus dem Grundgesetz, "die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze"
dürfen nicht angetastet werden.
Das heisst, EU-Rat und EU-Kommission haben sich ab jetzt an die deutschen
Grundrechte zu halten. Gelten die ergo nicht ab sofort für eine halbe Milliarde
Menschen in den EU-Mitgliedstaaten?


Professor Dr. Schachtschneider:
Leider ist das nicht so und vom Gericht nicht so gemeint. Die Rechtsetzung der Union
ist nur an die Grundrechte der Union gebunden. Diese sind nicht nur textlich kläglich,
sondern können auch stärker als die Grundrechte des Grundgesetzes eingeschränkt
werden. Der Europäische Gerichtshof hat noch niemals einen Rechtsetzungsakt der
Union an den von ihm praktizierten Grundrechten scheitern lassen. Aber unser
Gericht hält den Grundrechtsschutz diese Gerichthofs für gleichwertig.


Infokriegernews.de:
Karlsruhe hat heute geurteilt, das Grundgesetz erlaubt keine "Übertragung der
Kompetenz-Kompetenz" und damit eben auch keine "Verselbständigung politischer
Herrschaft für die Europäische Union durch die Einräumung stetig vermehrter
Zuständigkeiten". Grob gesagt: Ein gewähltes Parlament kann seine Kompetenz nicht
an ein anderes Parlament abgeben und schon gar nicht an eine Ansammlung von
Regierungschefs. Das vernichtet doch den Lissabon-Vertrag in seinem geplanten
Kern als sich selbst rechtfertigendes Ermächtigungsgesetz nach dem Prinzip eines
unkontrollierbaren Perpetuum Mobile und setzt den im Grundgesetz Artikel 23
verankerten "Grundsatz der Subsidiarität" wieder auf den Thron?


Professor Dr. Schachtschneider:
Ja, das ist ein wichtiger Erfolg des Prozesses. Ich war, diese Diktaturverfassung zu
rügen, nicht müde geworden. Wenn die Generalermächtigungen genutzt werden,
um weitere Hoheitsrechte auf die Union zu übertragen, bedarf das jetzt eines
Gesetzes des Bundes, das dem Einverständnis des Bundeskanzlers oder
Bundesministers mit derartigen Beschlüssen des Europäischen Rates bzw. des Rates
vorausgeht. Die Vertragsregelungen waren ungeheuerlich. Schon deswegen mußte
der Prozeß geführt werden. Aber die tagtägliche Entmachtung der Mitgliedstaaten
ist dadurch nicht behoben.


Infokriegernews.de:
Der Bundesverfassungsgerichtshof hat heute ein weiteres, sehr wichtiges Recht der
Berliner Republik festgestellt: das Recht, jederzeit aus der EU auszutreten. Wörtlich
entschied es, "der Austritt aus dem europäischen Integrationsverband" dürfe "nicht
von anderen Mitgliedstaaten oder der autonomen Unionsgewalt unterbunden
werden", da es sich dabei nicht um eine " Sezession aus einem Staatsverband",
sondern "lediglich um den Austritt aus einem auf dem Prinzip der umkehrbaren
Selbstbindung beruhenden Staatenverbund" handelt.
Ist das nicht hochinteressant, dass das oberste Verfassungsgericht dies hier
überhaupt klarstellen muss?


Professor Dr. Schachtschneider:
Das Austrittsrecht hat das Bundesverfassungsgericht bereits im Maastricht-Urteil 1993 festgestellt. Ich hatte auch diesen Prozeß betrieben. Diese Feststellung gegen die allgemeine Meinung war damals der größte Erfolg. Das Austrittsrecht war inzwischen auch in den gescheiterten Verfassungsvertrag und den Vertrag von Lissabon aufgenommen worden und stand nicht mehr in Streit.


Infokriegernews.de:
Brüssel hat ab heute "die europarechtliche Pflicht, die verfassungsgebende Gewalt
der Mitgliedstaaten als Herren der Verträge zu achten. Das
Bundesverfassungsgericht hat im Rahmen seiner Zuständigkeit gegebenenfalls zu
prüfen, ob diese Prinzipien gewahrt sind". Dazu schrieb gestern eine grössere Zeitung
in ebenso später, wie bemerkenswert wendiger Einsicht:
http://www.focus.de/politik/ausland/lissabon-vertrag-verschlafene-parlamentarierwache-
richter_aid_412711.html

"Jetzt ist deutlich: Solange das Grundgesetz gilt, werden auch die härtesten EU-Fans
im Auswärtigen Amt die Karlsruher Aufpasser nicht mehr los."
Herr Schachtschneider, was sagen Sie dazu, dass Karlsruhe sich jetzt in Sachen
Grundgesetz offen über den EU-Gerichtshof stellt?


Professor Dr. Schachtschneider:
Auch das ist nicht neu und entspricht der jahrzehntelangen Rechtsprechung des
Gerichts zum Integrationsrecht. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts hatte in
Deutschland immer Vorbehalte, insbesondere die Strukturprinzipien des
Grundgesetzes, welche die Identität unseres Verfassungsgesetzes ausmachen.
Darüber hatte immer schon das Bundesverfassungsgericht zu wachen. Insoweit
bestand keine Gefahr. Allerdings spielt das in der Alltagspraxis überhaupt keine Rolle.
Es sind die vielen einfachen Rechtsakte, die ohne demokratische Legitimation
zustande kommen. Die hat das Gericht entgegen meinem Vortrag gar nicht ins
Auge gefaßt. Es ist auch die deregulierende und neoliberalisierende Judikatur des
Europäischen Gerichtshofs, die uns unendlich schadet, der entfesselte Kapitalismus,
der zur Wirtschaftskrise geführt hat usw. Damit hat sich unser Gericht entgegen
meiner Verfassungsbeschwerdeschrift nicht befaßt. Die reale Politik wäre in einer
wirklichen Demokratie undenkbar.


Infokriegernews.de:
Mit einem 5-Jahresplan namens "Tampere Programm" begann 1999 die
schleichende Transformation der inneren Struktur aller EU-Mitgliedsstaaten hin zu
autoritären Überwachungsstaaten. 2004 folgte das Haager Programm, nun hat die
Bundesregierung von SPD, CDU und CSU am 17. Juni still und heimlich das
"Stockholmer Programm" auf den Weg gebracht, was bis 2014 u.a. die vollständige
Kontrolle des Internets durch die EU exekutieren soll.
http://www.radio-utopie.de/2009/06/27/schaeubles-future-group-und-ihrstockholmer-
programm-5-jahresplan-der-eu-zum-ueberwachungsstaat/

Heute lehnte nun Karlsruhe die Ratifizierung des Lissabon-Vertrages ab, welcher der
EU-Justiz- und Polizeibehörde Eurojust erlaubt hätte, "strafrechtliche
Ermittlungsmaßnahmen" in Deutschland einzuleiten und diese "zu koordinieren".
"Arbeitsbereiche" von Eurojust sind "Terrorismusbekämpfung", sowie die "Prävention"
von "Kinderpornographie" und "Geldwäsche".
http://de.wikipedia.org/wiki/Eurojust
Haben Sie dazu eine Meinung?


Professor Dr. Schachtschneider:
Das Urteil hat die Ratifikation nur verschoben. Das neue Begleitgesetz wird schnell
beschlossen werden. Der polizeistaatlichen Entwicklung ist das Gericht in keiner
Weise entgegengetreten. Das Urteil hat die Entwicklung zur Diktatur nicht gehemmt.
Schließlich ist auch Deutschland keine Demokratie, sondern ein Parteienstaat, in dem
eine Oligarchie herrscht.


Infokriegernews.de:
Die Roten Roben haben heute endgültig festgestellt, dass die Bundeswehr ein
"Parlamentsheer" ist, "über dessen Einsatz das Repräsentationsorgan des Volkes zu
entscheiden hat". Und ganz unmissverständlich: "Der konstitutive
Parlamentsvorbehalt für den Auslandseinsatz der Bundeswehr ist integrationsfest."
Damit hat sich doch die Blockade der Straße von Hormus durch deutsche U-Boot und
Flottenverbände gegen den Iran per einfachen Befehl aus Brüssel erledigt?
Immerhin, aber die Einsätze der Bundeswehr im Ausland sind regelmäßig keine
Verteidigung Deutschlands, also verfassungswidrig. Das sieht freilich das
Bundesverfassungsgericht anders, das die neue NATO-Doktrin akzeptiert hat und
wiederum als kläglichen Ausgleich einen Parlamentsvorbehalt kreiert hat. Viel
bedeutet das in der parteienoligarchischen Wirklichkeit nicht.


Infokriegernews.de:
Herr Schachtschneider, Sie haben heute als Anwalt nicht nur für Ihren ehemaligen
Mandanten Peter Gauweiler, sondern für die ganze Republik "ein Urteil erkämpft, das
über die Maastricht-Entscheidung von 1993 weit hinausgeht", wie es eine Zeitung
schrieb. Bedeutet die heutige Entscheidung nicht in Wirklichkeit mehr als eine
Verhinderung des geplanten EU-Ermächtigungsgesetzes, sondern im Gegenteil
durch den Zwang zur Zustimmung des Bundestages bei Brüsseler Entscheidungen der
Regierungen eine enorme Verbesserung des Status Quo?


Professor Dr. Schachtschneider:
Ich bin nicht Rechtsanwalt, sondern Rechtsprofessor. Ich habe die
Verfassungsbeschwerde für Dr. Gauweiler verfaßt, die freilich schon vor seinem
Auftrag weitgehend vorbereitet war. Ich habe den Prozeß auch im eigenen Interesse
geführt, nämlich als Bürger und Rechtslehrer. Demgemäß ist das vereinbarte Honorar
mehr als bescheiden, daß der Abgeordnete Gauweiler nicht einmal bezahlt hat. Ich
werde ihn verklagen müssen. Er hatte mir schließlich die Vollmacht entzogen, weil ich
nicht bereit war, Interviews von seiner Zustimmung abhängig zu machen.

Erstens ging es auch um meine Sache, zweites ging es um die Sache des ganzen Volkes, ja aller Europäer.
Das Urteil geht dogmatisch nicht über das Maastricht-Urteil hinaus, fällt aber auch
nicht dahinter zurück. Die Integrationspolitik ist sehr viel weiter gegangen. Allerdings
formuliert das Lissabon-Urteil manches kräftiger. Das ist gut, hilft aber nur wenig.


Infokriegernews.de:
Heute erklärte das Bundesverfassungsgericht in nie gekannter Deutlichkeit seit dem
Faschismus, dass Deutschland ein souveräner Staat und die Deutschen ein
souveränes Volk sind. Ich zitiere:
"Das Grundgesetz ermächtigt die für Deutschland handelnden Organe nicht, durch
einen Eintritt in einen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands aufzugeben. Dieser Schritt ist wegen der mit ihm verbundenen unwiderruflichen Souveränitätsübertragung auf ein neues Legitimationssubjekt allein dem unmittelbar erklärten Willen des Deutschen Volkes vorbehalten."
Beginnt jetzt der Berliner Frühling, eine neue, souveräne Berliner Republik?


Professor Dr. Schachtschneider:

Das sind keineswegs neue Positionen des Gerichts. Die Öffentlichkeit hat sich von
dem Bewußtsein eines Selbstbestimmungsrechts Deutschlands entfernt. Viele sehnen ja die Auflösung Deutschlands in Europa geradezu herbei.
Nur ist das mit Art. 20 GG schlechterdings unvereinbar und bedürfte eines neuen Verfassungsgesetzes, das den Satz, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, aufhebt; denn gemeint ist das deutsche Volk.


Infokriegernews.de: Würden Sie zum Abschluss bitte eine kurze Übersicht Ihrer
persönlichen Einschätzung dieser Entscheidung aus Karlsruhe abgeben?


Professor Dr. Schachtschneider:
Die Maßstäbe des Urteils sind weitgehend in Ordnung, wenn mir auch das Gericht zu
viel von Herrschaft und von Mehrheit redet. Das ist nicht freiheitlich gedacht. Die
Anwendung der Maßstäbe ist fehlerhaft, weil das Gericht die reale Entmachtung der
Völker nicht geprüft und nicht in die Waagschale gelegt hat. Das Urteil entspricht
meinen Erwartungen. Die waren sehr bescheiden. Insgesamt gesehen hat sich das
Recht nicht behauptet, aber es sind äußerste Grenzen des Unrechts aufgezeigt
worden.


Infokriegernews.de:
Was ist der Grund für Ihr überaus überragendes Engagement für
die Unabhängigkeit Deutschlands? Es wird Ihnen durchaus nicht alles einfacher
gemacht haben in Ihrem Leben?


Professor Dr. Schachtschneider:
Mein Beruf ist es, das Recht zu vertreten, d.h. das Recht, wie ich es lehre, zu
verteidigen. Wenn mir das die Öffentlichkeit dankt, bin ich dankbar. Von der
Obrigkeit habe ich nichts zu erwarten, weder Orden noch Ehrenzeichen. Die
bekommen die Opportunisten und können sie gerne habe. Meine Triebfeder ist, ich
will an einem erneuten großen Unrecht in Deutschland und Europa nicht mitschuldig
werden. Diese Haltung habe ich aus meinem Elterhaus. Mein Vater war Mitglied er
Bekennenden Kirche und niemals Opportunist, im Gegensatz zur Haltung fast aller
unserer Politiker. Zu schaffen macht mir die schlechte Arbeit und der ideologische
Opportunismus der meisten Medien.
Danke für Ihre guten Fragen!


(Die Veröffentlichung erfolgte mit freundlicher Genehmigung von www.Infokriegernews.de)

Links: (http://www.hintergrund.de/20090210353/politik/inland/das-unrecht-des-vertragesvon-lissabon.html)